Camino Sanabrés - Camino Final

Camino Sanabrés - Camino Final

Camino Final 2021


Für das Jahr 2020 war keine Wanderreise geplant gewesen. Zum einen, weil ich Anfang des Jahres bereits mit meiner Mutter für fünf Tage in Sankt Petersburg war, zum anderen, weil ich „freie Tage sammeln“ wollte, um für das Finale meines zweiten Jakobsweges etwas Besonderes zu planen.

 

Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, noch einmal mit all meinen bisherigen Begleiter:innen unterwegs zu sein. Oder doch zumindest mit einem Teil davon. Ebenso wollte ich meine Border-Collie-Hündin Pauline mitnehmen. Sie hatte inzwischen das Alter erreicht, um lange Mehrtageswanderung gut zu überstehen. Deshalb sollte die Anreise auch mit dem eigenen PKW erfolgen, zumindest was mich betraf. Ein logistischer Aufwand ohne gleichen! Zumal man bedenken musste, dass in Herbergen keine Hunde erlaubt sind und diese auch nicht in jedem Hotel willkommen geheißen werden.


Deshalb begann ich bereits Anfang 2020 mit der Planung, obwohl der Start erst für den 31. März 2021 vorgesehen war. Zurückkommen wollte ich dann am 18. April 2021. Die Tour sollte also fast drei Wochen dauern. Ich wollte zwischen San Sebastián und Bilbao ein paar Kilometer auf dem Jakobsweg wandern, den Palmsonntag in Bilbao verbringen, und dann weiter, zuerst am Küstenweg, dann den Camino Francés entlangfahren und immer wieder Teilstrecken laufen. Ich hatte sämtliche Bus- und Zugfahrtpläne für Nordspanien ausgedruckt bzw. abgespeichert.


León, Ponferrada und Astorga standen ganz oben auf meiner Liste. In diesen Städten war jeweils eine Übernachtung geplant. Letztendlich hatte ich das Auto dann nach Santiago bringen und mit dem Zug wieder nach Ourense zurückfahren wollen, damit wir das letzte Wegstück, die letzten 100 Kilometer, pilgernd zurücklegen konnten.

 

Als die Planung weitgehend abgeschlossen war, die Tour feststand, Übernachtungsmöglichkeiten gefunden waren, erstellte ich eine Informationsbroschüre und schickte diese an meine „alten Pilgergefährten“. Mein Enkel Florian und meine Schwester Claudia erteilten mir sogleich eine Absage, sie konnten so lange nicht weg. Auch Marlene konnte ich nicht dazu überreden. Meine Mutter hatte ich von vorneherein nicht in meine Planung eingeschlossen. Sie war inzwischen 80 Jahre alt und eine Reise, wie ich sie vorhatte, wäre mit Sicherheit für sie zu anstrengend gewesen.


Martina, Uschi und Roswitha waren allerdings gleich mit von der Partie. Also mehr oder weniger gleich! Der Plan sah folgendermaßen aus: Roswitha und ich wollten, mit Pauline im Gepäck, in der Nacht vom 30. auf den 31. März 2021 losfahren, irgendwo in Frankreich übernachten, und am nächsten Tag in San Sebastián, nahe der spanisch-französischen Grenze, ankommen. Uschi und Martina würden am 1. April von Frankfurt aus über Bilbao nach San Sebastián fliegen, wo wir sie, falls wir dann schon vor Ort wären, in Empfang nehmen würden. Die Flüge für die beiden waren dann auch schnell gebucht.


Es kam aber alles anders als ich es mir vorgestellt hatte, denn zum Zeitpunkt der Planung konnte noch niemand ahnen, dass diese seltsame neue Lungenerkrankung, die da im fernen Wuhan ausgebrochen war, meine ganzen schönen Pläne zunichtemachen würde. Zuerst dachten wir noch, wir haben ja noch über ein Jahr bis April 2021, bis dahin ist Corona wieder verschwunden. Doch im Februar 2021 cancelte Iberia die Flüge und stellte uns stattdessen Gutscheine aus, die vorläufig bis Februar 2022 gültig waren. Ans Reisen war zu dieser Zeit nicht zu denken. Lockdowns, Maskenpflicht, Kontaktverbote, nächtliche Ausgangssperren, Ein- und Ausreiseverbote bestimmten unser aller Leben.


Alle bereits gebuchten Übernachtungen wurden wieder storniert, die Reise auf unbestimmte Zeit verschoben. Und doch begann ich da bereits wieder zu planen, denn aufgeben wollte ich meinen Traum nicht!


Im Sommer 2021 wurden die Corona-Regeln wieder gelockert. Zeitgleich standen bei unseren Kühen nur vergleichsweise wenige Geburten an. Nun galt es, schnell zu handeln. Es würde eine deutlich abgespeckte Reise werden. Für eine Anreise mit dem Auto reichte die Zeit nicht, aber eine gute Woche sollte wohl drin sein. Pauline musste zuhause bleiben, denn erstens war es in Spanien noch zu heiß, um mit Hund zu wandern, und zweitens würde ich niemals einem Hund zumuten, mehrere Stunden allein in einem Käfig im Bauch eines Flugzeugs eingesperrt zu sein.


Roswitha und ich übernahmen die Iberia-Gutscheine, Uschi und Martina buchten bei Lufthansa einen Direktflug nach Santiago.

Am 4. September 2021 konnte die letzte Etappe meines zweiten Jakobswegs beginnen.





Samstag, 4. September 2021


Ich starte mit zehnminütiger Verspätung kurz nach sechs am Morgen. Verspätung deshalb, weil mein lieber Mann seinen Impfpass nicht finden kann. Und bei der augenblicklichen Corona-Lage weiß man ja nie, ob man ihn nicht braucht, sobald man das Haus verlässt. Menschen mit Smartphone haben ihren Impfnachweis zwar auf der CovPass-App, aber Schos hat eben kein Smartphone!


Roswitha wartet schon an der Haustüre, als ich bei ihr ankomme. Der Rucksack wandert in den Kofferraum und die Fahrt geht los. Kurz nach sieben erreichen wir Schwaig, wo wir mein Auto am Park-Service abgeben und mit unserem Gepäck zum Terminal gebracht werden. Das Einchecken erfolgt ohne jegliche Probleme. Niemand kennt sich noch so wirklich mit der Funktionsweise der CovPass-App aus und die Sicherheitsbeamtin schaut sich den QR-Code nur an, ohne ihn zu scannen oder zu überprüfen. Dafür muss ich, wie üblich, meine Wanderstiefel ausziehen und aufs Band legen. Im gesamten Flughafengebäude ist die Mund-Nasen-Schutzmaske zu tragen.


Wir frühstücken im Bereich nach der Sicherheitskontrolle und der Abflug erfolgt planmäßig. Auch während des Fluges dürfen wir die Maske nur während des kleinen Imbisses abnehmen. Wir landen in Barcelona 15 Minuten vor der Zeit, womit sich unser Zwischenaufenthalt auf zwei Stunden und vierzig Minuten verlängert. Weitere fast drei Stunden, in der man die Maske nur zum Essen abnehmen darf. Aber es gibt am Flugplatz Barcelona genug Imbiss-Stände. Den Rest der Zeit verbringen wir mit Bummeln durch die Duty-Free-Shops und erkunden, was wir auf dem Rückflug, beim Zwischenstopp hier, alles kaufen werden.


Für den Weiterflug müssen wir nicht noch einmal durch die Sicherheitskontrolle, da wir den Transitbereich nicht verlassen haben. Eine Stunde und fünfzig Minuten später landen wir in Santiago de Compostela und nehmen unsere Rucksäcke als eine der ersten vom Band. Auch hier müssen wir nicht durch die Sicherheits- und Gesundheitskontrolle, weil wir aus Barcelona kommen, es sich also um einen Inlandsflug handelt.


Wir schauen auf der Ankunfts-Anzeige nach, ob der Flieger aus Frankfurt schon gelandet ist und stellen fest, dass dieser offenbar als „verschollen“ gilt. Zumindest wird er auf der Anzeige nicht angezeigt. Doch kurze Zeit später steht da in großen Lettern, an welchem Ankunftsgate wir Martina und Uschi erwarten dürfen. Der Bereich für die internationalen Flüge ist großräumig mit durchsichtiger Folie abgesperrt. Wir dürfen da nicht direkt hin, sondern können nur am Ausgang warten. Hinter dieser Absperrung sehen wir Menschen in weißen Ganz-Körper-Anzügen mit Schutzbrillen und Gesichts-Masken, die bei allen ankommenden Fluggästen eine Gesundheitskontrolle durchführen. Wie im Katastrophen-Film. Es wird nicht nur der Impfnachweis überprüft, sondern auch die Temperatur gemessen.


Unsere beiden Mitpilgerinnen dürfen den Ausgang passieren und gemeinsam streben wir der Autovermietung zu. Wir finden den Schalter der Firma Enterprise verlassen vor, aber ein Schild weist nach rechts und wir stellen uns am Nebenschalter an. Es dauert gute zehn Minuten, ehe ich einen Zettel entdecke, der, DIN-A-4-groß, mittig und eigentlich unübersehbar an der Scheibe des Enterprise-Schalters hängt. Darauf steht in Englisch und Spanisch, man solle in den 5. Stock im Parkhaus gehen. Dort ist das Büro der Firma Enterprise und da bekommt man auch das Auto. Im Aufzug stellen wir fest, dass wir uns im Erdgeschoss befinden und es über uns nur 2 Stockwerke gibt!


Martina drück dann kurzerhand den Knopf für das 5. Untergeschoss. Hier stehen wir nun eine gute halbe Stunde in der Schlange an und bekommen schließlich fast das Auto, das ich bestellt hatte: Opel Corsa o. ä. – also einen VW Alhambra 😉!


Für unser Gepäck ist reichlich Platz, der Tank ist voll. Ich fahre, Uschi übernimmt die Navigation, Martina und Roswitha sitzen auf der Rückbank und beschnuppern sich schon mal. Das konnten Uschi und Martina auf dem Flug von Frankfurt nach Santiago schon machen. Meine drei Mitstreiterinnen kennen sich nämlich noch nicht. Ihre einzige Schnittstelle bin ich – sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner! Dabei bin ich nur die zweitkleinste in der Gruppe!


Ich fahre zunächst einmal eine komplette Runde durch das Parkhaus und als ich zur zweiten Runde ansetze, fragt Martina, ob ich nicht doch einmal auf die Ausfahrt abbiegen will. Draußen angekommen lotst Uschi mich in die falsche Richtung, sprich auf die Autobahn Richtung Santiago. An der nächsten Abfahrt drehe ich um, verfehle die Auffahrt und wir landen fast auf dem Zubringer zur Start- und Landebahn. Daraufhin nehme ich Uschi das Navi ab und irgendwann befinden wir uns schließlich doch auf der Autobahn in Richtung Ourense.


In Ourense will ich zunächst meine Begleiterinnen samt unseren Rucksäcken am Hotel Altiana absetzen und dann das Auto am vorgesehenen Platz am Bahnhof abgeben. Bei der Einfahrt in die Stadt überfahre ich eine rote Ampel. Ich werde leicht unsicher, fahre falsch herum in eine Einbahnstraße und werde dadurch hektisch. Vielleicht auch zickig! Ich will jetzt sofort zum Bahnhof und das Auto loswerden. Unsere Rucksäcke können wir auch zum Hotel tragen. Schließlich müssen wir sie ab morgen sowieso immer tragen.


Uschi nimmt mir das Navi wieder ab und dirigiert mich zum Bahnhof. Auch hier drehe ich erst einmal eine Runde über und um den gesamten Bahnhofsbereich und parke schließlich auf dem Taxistand. Hier muss irgendwo die Straße sein, in der wir das Auto abstellen sollen. Ein Blick aufs Navi sagt mir: wir befinden uns schon in dieser Straße. Beim Verlassen des Taxisstands entdecke ich die Zufahrt zur Tiefgarage. Nichts wie hinunter! Dort steht schon ein Auto von Enterprise. Ich stelle unser Fahrzeug daneben ab und frage die Frau an der Pforte, ob das so passt. Ja, passt alles!


Wir räumen unsere Habseligkeiten aus, schließen das Fahrzeug ab und werfen den Schlüssel in den Briefkasten am Enterprise-Schalter oben auf dem Bahnhofsplatz. Danach fällt mir ein, dass wir nicht getankt haben. Nun, dann soll Enterprise das eben von der Kaution abziehen. So viel Benzin haben wir für die knapp 100 km vom Flugplatz hierher sicher nicht verbraucht.


Der Weg vom Bahnhof über die Puente Romano in die Altstadt ist Roswitha, Uschi und mir bekannt. Martina ist zum ersten Mal in Ourense und vertraut sich unserer Führung an. Nach einem minimalen Umweg finden wir das Hotel, checken ein und ziehen uns um. Uschi bezieht mit Martina zusammen eines der Doppelzimmer, Roswitha und ich teilen uns das andere. Nachdem wir uns etwas frisch gemacht haben, ziehen wir los durch die Altstadt, essen in unserer bevorzugten Pulpería fangfrischen Pulpo und geben uns der Vorfreude auf die vor uns liegenden Tage hin. Zur Feier des Tages spendiert Uschi uns allen noch ein Eis.


Sonntag, 5. September 2021


Wir frühstücken in der Cafetería des kleinen Hotels, wobei Uschi fleißig ihre Sprachkenntnisse testet. Um 09:30 Uhr stehen wir abmarschbereit auf der Straße und wandern gemütlich Richtung Puente Romano. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Brücke jetzt schon in die eine oder andere Richtung überquert habe. Ich habe die Zeit, die ich bisher in Ourense verbringen durfte, immer sehr genossen. Schade, dass wir dieses Jahr keine Zeit dafür hatten, den Thermen einen Besuch abzustatten.


Nach der Brücke wenden wir uns erstmals nach rechts, weg vom Bahnhof. Der Weg aus der Stadt heraus führt zwangsläufig bergauf und wird immer steiler. Wir passieren viele Bars und Restaurants und überall stehen große, gasbetriebene Kochtöpfe vor der Tür, und Wannen, die mit Pulpos schier überquellen. An den ersten beiden Wochenenden im September ist Pulpo-Fest in Galizien. Schade, dass die Pulpos nicht vor zwei Uhr fertig gegart sind.


Die Gegend wird immer ländlicher, je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernen. Noch immer haben wir das Ende der Steigung nicht erreicht. Die Hosenbeine sind längst abgezippt und auch die letzte Jacke wurde schon im Rucksack verstaut. Es ist heiß – und anstrengend. Während ich mich mit den ersten Wadenkrämpfen herumquäle und Martina nach einem Brunnen sucht, wo sie ihre Wasserflasche auffüllen kann, bestaunen Uschi und Roswitha die riesigen Hortensien, die Blütenstände haben, so groß wie Kinderköpfe. Als ein Schild darauf hinweist, dass Reiter absitzen sollen, weil der Weg hier zum Reiten zu steil wird, legen wir an einer Bank eine erste kurze Rast ein. Der Blick von hier über die Stadt ist gewaltig.


Wenige hundert Meter weiter lassen wir Ourense endgültig hinter uns und wandern ab jetzt durch lichten Eichenwald. Es ist bereits nach Mittag als wir auf einem Hügel erneut eine Siedlung erreichen und an mehreren großen Häusern mit gepflegten Vorgärten vorbeilaufen, wobei wir von einem älteren Mann beäugt werden, der in seinem Garten arbeitet. Auf einer Bank neben einem Brunnen lassen wir uns noch einmal zu einer kurzen Pause nieder. Wir sitzen noch nicht lange, da kommt besagter Mann zu uns herüber und versorgt uns mit köstlichen Birnen aus seinem Garten. Auch auf dem Camino Sanabrés hat man offenbar für Pilger etwas übrig.


  • Gut gestärkt brechen wir wieder auf. Die Hitze setzt uns mittlerweile ganz ordentlich zu und wir sind froh über jedes noch so kleine Waldstück, durch das der Pfad uns führt. Am Nachmittag erreichen wir ein Dorf und ich sehe mich nach einem Restaurant um, das in der Karte verzeichnet ist. Wir müssen hierfür die Nationalstraße überqueren, die aber nicht sehr stark befahren ist. Zum Restaurant gehört ein Gastgarten und wir suchen uns einen Tisch unter einem Baum. Wir wollen bei der mürrisch dreinblickenden Kellnerin verschiedene Tapas bestellen, doch werden uns diese verweigert. Wir können sie lediglich dazu überreden, uns ein paar Bocadillos und einige Flaschen Wasser zu bringen. Hier mag man Pilger anscheinend nicht!


    Bis zu unserer Unterkunft haben wir noch etwa eineinhalb Stunden zu laufen. Die Strecke an sich ist schön aber der erste Wandertag ist eben nie ganz einfach. Wir überqueren einen kleinen Fluss auf einer gut restaurierten mittelalterlichen Brücke, kommen durch ein verlassen wirkendes Dorf mit uralten Gemäuern, und es wird immer anstrengender, in dieser Hitze vorwärtszukommen. Bald nach unserer Pause finden wir eine Lichtung im Wald, die geradezu zu einem ausgedehnten Nachmittagsschläfchen einlädt. Nach einer Weile breche ich wieder auf. Uschi möchte gerne noch ein wenig ruhen, doch ich habe Durst und kein Wasser mehr. Ich möchte zur Unterkunft. Ich schnappe mir meinen Rucksack und ziehe langsam weiter. Nach ein paar Minuten schließen Martina und Roswitha zu mir auf und wenig später auch Uschi. Die Hitze wird langsam unerträglich und wir rasten nach 30 Minuten noch einmal kurz an einem Gehöft und sehen uns dort etwas um, in der Hoffnung, einen Wasserhahn oder Brunnen zu finden. Durstig ziehen wir schließlich weiter. Dann kommt endlich ein Hinweisschild, das zu unserer Unterkunft weist. Von hier sind es noch 2 ½ km. Wir wollen schon rechts abbiegen, da bemerkt Uschi einen Pfad, der geradeaus führt und auf dem man, lt. Google Maps, auch nach Pazos zu unserer Unterkunft kommt. Wir riskieren es und stehen schon nach wenigen Minuten vor der Pension, in der ich uns für die kommenden zwei Nächte zwei Doppelzimmer gebucht habe. Uschis Abkürzung hat uns zwei lange Kilometer erspart.


    Wir haben zwei schöne, kühle Zimmer in diesem rustikalen Gebäude, unseres hat sogar einen Balkon mit einem Tisch und vier Stühlen drauf. Heute und morgen teile ich mir das Zimmer mit Martina, während Roswitha und Uschi sich im anderen Zimmer ausbreiten. Nach dem Duschen und Wäschewaschen sehe ich mich im Garten unten ein wenig um und finde die beiden in der Hängematte. Uschi hat beim Wirt auch schon das Wein-Sortiment inspiziert und eine Flasche für uns alle geordert. Die genehmigen wir uns in geselliger Runde bei uns auf dem Balkon, inmitten unserer lustig im Wind flatternden Wäsche.


    Später fährt unser Hauswirt uns in ein Restaurant nach Cea. Wir lassen uns auf der Terrasse nieder, doch der Wirt scheucht uns nach drinnen. Angeblich wird es bald zu frisch, um noch draußen zu sitzen. Die Menü-Auswahl überlassen wir dem Wirt und vertrauen darauf, dass er weiß, was ausgehun-gerte Pilgerinnen nach einem langen Wandertag brauchen. Es dauert nicht lange und er tischt uns eine Auswahl an Meeresfrüchten wie Langusten, Gambas, Pulpo, Muscheln, sowie Koteletts vom Iberico Schwein, Chorizo und eine riesige Schüssel Salat auf. Dazu reicht er leckeres Weißbrot. Cea ist das Dorf der Bäcker und in der ganzen Region berühmt für sein Brot, habe ich im Vorfeld gelesen.


    Als die vielen leeren Teller abgeräumt sind und wir gefragt werden, ob wir noch ein Dessert oder einen Kaffee haben möchten, frage ich, welchen Schnaps er anbieten kann. Und weil ich nicht weiß, was Schnaps auf Spanisch heißt, frage ich mit Händen und Füßen. Der Wirt ist sich zunächst nicht sicher, ob er mich richtig verstanden hat, bringt aber einen Steinkrug und ein Schnapsglas. Fragend sieht er mich an und sagt: „Chupito“?

    Jawohl: Chupito!

    Er kann immer noch nicht glauben, dass Pilgerinnen Schnaps trinken, doch er bringt nun vier Gläser und schenkt eine klare Flüssigkeit ein. Martina ziert sich und lehnt den Schnaps ab, doch unser Wirt lässt nun nicht locker und „verordnet“ ihr einen kleinen Probe-Schluck. Praktisch einen Chupitito! Ehrlich erstaunt sieht er dann zu, wie wir vier unseren Schnaps kippen, dann geht er zur Theke, holt sich auch ein Glas und schenkt noch einmal eine Runde ein. Und dieses Mal nimmt auch Martina einen ordentlichen Chupito! Der Schnaps geht dann auch aufs Haus!

    Montag, 6. September 2021


    Wir haben gut geschlafen und ziehen gegen 09:00 Uhr mit leichtem Gepäck und ohne Frühstück los. Lediglich Martina hat vom letzten Teebeutel des Hauses eine Tasse Tee bekommen. Wir anderen haben auf den Kaffee, den Roswitha gekocht hatte, verzichtet. Da war wohl das Kaffeepulver schon jenseits von Gut und Böse.


    Der direkte Weg führt über Cea ins 18 km entfernte Castro Dozón. Die Alternativroute verläuft über das Zisterzienserkloster Oseira und ist ca. 5 km länger. Da die komplette Strecke von Ourense bis Santiago nur mit wenigen Sehenswürdigkeiten gesegnet ist und zudem die Herberge in Castro Dozón nicht den allerbesten Ruf genießt, haben wir beschlossen, den Umweg über Oseira zu machen, uns in Castro Dozón (oder auch schon vorher) abholen zu lassen und wieder in unsere Unterkunft in Pazos zurückzukehren. Morgen wird uns dann das Taxi wieder nach Castro bringen. Daher haben wir heute auch nur leichtes Gepäck.


    Die 3 km bis Cea sind angenehm zu laufen. Es gibt kaum Höhenunterschiede, die Temperatur ist angenehm, nicht zu frisch, nicht zu warm. In Cea drehen wir erst eine Runde durch das kleine, überschaubare Dorf. Wir suchen die Pilgerherberge, weil Roswithas Pilgerausweis fast keinen Platz für weitere Stempel hat. Ich sage ihr zwar, dass man auch selbst Zusatzseiten einlegen kann, doch Roswitha möchte lieber einen zweiten Pilgerausweis. In der Herberge wird gerade geputzt, alle Pilger der letzten Nacht sind bereits weitergezogen. Die Hospitalera bedauert es sehr, aber sie hat aktuell keine Credencials anzubieten. Nun, dann fragen wir eben im Rathaus nach. Wir lassen uns alle einen Stempel in unsere Ausweise drücken und trotten weiter zum Dorfplatz. Dort gibt es einen schönen großen Brunnen und es werden gerade diverse Marktstände aufgebaut. Martina und Uschi sehen sich auf dem Dorfplatz etwas um, während ich mit Roswitha ins Rathaus gehe und nach einem Pilgerausweis frage. Die nette Dame zückt sofort ihren Pilgerstempel und stempelt fleißig in unsere Credencials, womit wir für heute dann incl. des Stempels unseres Hauswirts bereits drei verschiedene Exemplare haben. Ein neues Credencial kann sie uns aber auch nicht geben.

    

    Roswitha ist darüber sichtlich enttäuscht und ich habe das Gefühl, sie kann diesen schönen Morgen nicht so genießen, wie wir anderen. Mit dem Frühstück haben wir dann genau so wenig Glück wie mit der Credencial-Beschaffung. Wir bekommen lediglich einen Kaffee, aber nichts zu essen. Hungrig wollen wir nicht zu unserer Wanderung aufbrechen. So suchen wir nach einem der vielgerühmten Bäcker, finden einen am anderen Ende des Dorfes, und erstehen direkt an der Backstube ein großes, rundes, warmes, duftendes Holzofenbrot, welches sich Uschi glücklich unter den Arm klemmt. Mit dem Brot ziehen wir zurück zum Markt und während meine Pilgerfrauen Wurst, Käse und rote Paprikaschoten einkaufen, habe ich ein längeres Telefonat mit einem Mitarbeiter der Autovermietung Enterprise. Man will von mir wissen, wo ich den Parkschein gelassen habe. Den kann man nirgends im Auto finden. Kunststück! Den habe ich ja auch in meinem Geldbeutel! Ohne Parkschein bekommt man aber das Auto nicht aus der Tiefgarage! Zum Glück gibt es WhatsApp! Der Parkschein wird fotografiert und das Foto an Enterprise gebeamt.


    Die Einkäufe sind inzwischen erledigt und wir verlassen das Dorf und lassen uns kurze Zeit später an einer uralten Mauer im Wald nieder, um ausgiebig zu brunchen. Mittlerweile ist es 12:00 Uhr und ich habe den Gedanken, heute bis Castro Dozón zu wandern, längst abgeschrieben. Bei unserem Tempo müssen wir froh sein, wenn wir vor dem Abend das Kloster erreichen. Immerhin liegt noch eine Strecke von 9 km vor uns!

    😉  Aber Hauptsache die Stimmung ist gut – und das ist sie!


    Nach etwa einer Stunde ziehen wir weiter. Der Weg verläuft entlang einer sogenannten Cañada real, eines uralten, doch auch heute noch genutzten Viehtriebweges. Cañadas reales durchziehen Spanien wie ein gigantisches Spinnennetz. Sie haben ihren Ursprung in der Zeit der römischen Besatzung, als die Legionen in ganz Spanien mit Rindern aus Andalusien und Schweinen aus der Extremadura versorgt werden mussten. An vielen Stellen unseres heutigen Wegs wandern wir daher auf altehrwürdigem, römischen Sandsteinpflaster. Der herrliche Duft, der uns umgibt, stammt von den vielen Eukalyptusbäumen, die hier als nachwachsender Rohstoff angepflanzt werden.


    Bereits 30 Minuten nach unserer ausgedehnten Frühstücks- und Mittagspause finden wir es an der Zeit, ein ebenso ausgedehntes Mittagsschläfchen abzuhalten und suchen uns, jede für sich, ein passendes Plätzchen im Eukalyptushain. Die Sonne blinzelt träge durch das Blätterdach und sorgt für ein beruhigendes Spiel mit Licht und Schatten, der Wind säuselt uns eine liebliche Melodie ins Ohr, der Eukalyptus berauscht uns mit seinem Aroma und schon ist es um uns geschehen. Wir erwachen nach etwa einer Stunde, als ein paar Gouchos irgendwelche Tiere vorbeitreiben. Fast schon widerwillig sammeln wir unsere Habseligkeiten ein und ziehen wieder weiter.


    Nach wenigen Minuten landen wir auf einer elend langen Teerstraße. Baum- und somit schattenlos führt der Weg stetig bergauf. Die Sonne, die vorher noch so angenehm erschien, brennt nun unbarmherzig vom Himmel und wird vom Asphalt reflektiert. Wir laufen in großem Abstand zueinander. Jede von uns ist gerade allein auf dieser weiten Welt. Es ist seltsam, morgens laufen wir gemeinsam, plappern fröhlich drauflos, dann wird es um die Mittagszeit etwas ruhiger, die Gespräche werden oft nur noch zu zweit geführt, um schließlich ganz zu verebben. Am Nachmittag läuft dann jede, wenn auch nicht unbedingt allein, so doch in sich gekehrt und mit den Gedanken ganz bei sich selbst.


    Mir kommt eine Stelle aus der Bibel in den Sinn. Ich bin kein besonders religiöser Mensch und sicher nicht das, was man bibelfest nennt. Aber eine meiner Lieblingspassagen ist diese: „Alles hat seine Zeit: Zeit zum Arbeiten und Zeit zum Ruhen, Zeit zum Lachen und Zeit zum Weinen, Zeit zum Reden und Zeit zum Schweigen…….“ Beim Pilgern musste ich schon häufig an diese paar Zeilen denken. Beim Pilgern versuche ich noch mehr als sonst, mich ganz auf diese Worte einzulassen. Nachmittags ist offenbar Zeit zum Schweigen!


    Als wir die höchste Stelle der Straße erreichen, drehe ich mich um und schaue zurück. Der Blick kann weit über die hinter uns liegenden Wälder und Bergrücken schweifen und mir ist, als könne ich den ganzen bisher zurückgelegten Weg von Málaga über Córdoba, Cáceres, Salamanca, Zamora, Puebla de Sanabría, Ourense bis hierher überblicken. Was natürlich kompletter Blödsinn ist! Aber bis zu den Bergen rund um Ourense kann man schauen. Das ist realistisch! Vielleicht sogar bis Puebla de Sanabría!


    Endlich kommen wir in einem kleinen Weiler an einem Brunnen vorbei und können uns etwas erfrischen und unser schales, abgestandenes Wasser gegen frisches Wasser tauschen. Uschi läuft uns heute regelrecht davon. Ihr scheint die Hitze nicht so viel auszumachen wie uns anderen. Als der Weg von der Teerstraße auf eine Sandpiste abbiegt und schließlich an einer alten, wunderschönen Mauer entlangführt, hole ich sie wieder ein und wir wandern ein Stück schweigend nebeneinanderher. Es ist ein vertrautes Schweigen, kein bedrückendes, bei dem man krampfhaft darüber nachdenkt, was man sagen könnte, um der Stille zu entfliehen. Schweigend lasse ich Uschi dann auch wieder weiterziehen und warte auf Roswitha und Martina, um dann mit ihnen, ebenso angenehm schweigend, das Kloster zu erreichen.


    Bereits vom Sandweg aus, der im Bogen um das Kloster herumführt, hatte ich bemerkt, dass man praktisch nichts sehen und auch nichts hören konnte. Keine Autos auf dem großen Parkplatz, keine Busladungen voller Touristen, keine anderen Pilger, keine Stühle und Tische vor dem Restaurant, keine Schlange um Eintrittskarten anstehender Touristen oder Gläubigen vor dem Kassenhäuschen. Nichts! Der Eindruck von Verlassenheit verstärkt sich beim Näherkommen noch. Es ist gespenstisch leer rund um das Klosterareal. Wir streifen über das Gelände und stellen fest, dass die Pilgerherberge infolge Corona geschlossen ist. Genau, Corona gibt es ja auch noch! Das hatte ich beinahe vergessen! Dabei laufen die Spanier sogar im Freien fast ausnahmslos mit der Maske herum! Die Bar, das Kiosk, das Restaurant – alles ist zu! Lediglich der Souvenirladen des Klosters soll in ein paar Minuten für etwa eine Viertelstunde öffnen. Martina, Roswitha und ich hätten das Kloster gerne besichtigt und wollen nun wenigstens da kurz rein. Uschi legt keinen Wert darauf und wartet vor der Bar auf uns.


    Bevor wir den Klosterladen betreten, rufe ich aber noch schnell unseren Taxisfahrer an und erkläre ihm, dass er uns nicht in Castro Dozón, sondern in Oseira abholen soll. Er will in 20 Minuten da sein. Im Laden gibt es den üblichen Ramsch, nichts, was von handwerklichem Wert wäre. So fragen wir nur nach dem Pilgerstempel – für Roswitha und mich der vierte für heute – und gehen zurück zur Bar. Als Uschi vom Stempel erfährt, möchte sie doch auch einen in ihr Credencial haben und läuft zum Klosterladen. Dort bittet sie außerdem um Wasser für ihre Trinkflasche und man schließt ihr die Tür zum Innenhof auf, wo der Brunnen steht. So darf dann sie, die als einzige das Kloster nicht hatte besichtigen wollen, als einzige ins Kloster hinein. Die Welt ist ungerecht!


    Der Taxifahrer bringt uns zurück nach Pazos. Dabei fährt er wie ein Irrer mit guten 80 km/h durch sämtliche Ortschaften, wobei er gleichzeitig in seinem Terminkalender blättert und mit uns die Zeit, zu der er uns morgen früh nach Castro Dozón bringen soll, verhandelt. Wir wollen gerne um 9:00 Uhr abgeholt werden. Er handelt uns auf 8:00 Uhr und als wir aussteigen, sagt er schließlich: „Also dann bis morgen früh um 7:30 Uhr.“  Froh darüber, die rasante Fahrt lebend überstanden zu haben, nicken wir nur, gehen zu unseren Zimmern hinauf, setzen uns auf unserem Balkon zusammen und trinken erst einmal eine Flasche Rotwein.


    Abends fährt unser Hauswirt uns wieder zum Restaurant nach Cea. Wir haben uns kaum am Tisch niedergelassen, da stellt der Wirt wortlos vier Chupitos vor uns hin, fragt diesmal gar nicht erst nach unseren Wünschen, sondern bringt gleich darauf das Essen. Es gibt Nudeln mit Pilzen, Eiern und Salat. Es ist vom Angebot her nicht mehr so delikat wie gestern, sondern gleicht eher einem Reste-Essen, aber es schmeckt dennoch gut, ist reichlich, und es gibt danach einen Café solo und ein Dessert. Tarta Santiago – eine Mandeltorte und Tarta de Queso – Käsekuchen. Beides wird mit sehr viel Kaffee-Schnaps übergossen. Zur Rechnung trinkt der Wirt dann noch einen Chupito mit uns, der wieder aufs Haus geht.


    Die nachmittägliche Schweigezeit ist schon lange überwunden und die Fahrt zur Unterkunft recht lustig. Bei einer weiteren Flasche Rotwein lassen wir unseren zweiten Pilgertag auf unserem Balkon ausklingen und sind einstimmig der Meinung: „Es war heute ein sehr schöner Pilgertag! Wenngleich wir nicht viel gepilgert sind. Aber der Seele tat der Tag gut! Und unseren Muskeln auch!!


    Dienstag, 7. September 2021


    Ich habe heute Namenstag und mir für diesen Tag etwas ganz Besonderes ausgedacht. Meine Pilgerfrauen wissen nichts und ahnen auch nichts. Es soll eine Überraschung sein. Aber davon später.


    Pünktlich um 7:00 Uhr stehen wir auf, packen unser Zeug und stehen um 7:30 Uhr abmarschbereit vor der Tür. Der Taxifahrer hat es unverändert eilig und setzt uns wenig später in Castro Dozón ab. Ich habe meinen Mädels versprochen, dass sie in Castro Dozón erst einmal ein ordentliches Frühstück bekommen, doch ich kann mein Versprechen nicht halten, denn der ganze Ort schläft noch. So wird das Frühstück um eine halbe Stunde verschoben und die nächste Bar an der Nationalstraße anvisiert. Unser Weg führt zunächst viel über Asphalt, erst auf der Nationalstraße, dann auf diversen Nebenstraßen, und schließlich wieder auf der Nationalstraße.


    In der Nacht gab es ein heftiges Gewitter und auch der Tag beginnt nass! Unaufhörlich rieselt leichter Nieselregen auf uns herab. Teils neben-, teils hintereinander trotten wir auf dem Seitenstreifen der Straße dahin bis zu besagter Bar, in der wir uns ein Frühstück erhoffen. Doch der ehemaligen Bar fehlt bereits das halbe Dach. Ich vertröste meine Mannschaft auf die nächste Raststätte in 6 km Entfernung. Eineinhalb Stunden später stehen wir nass und frierend wieder vor einer verschlossenen Tür. Heute schweigen wir bereits am zeitigen Vormittag und diesmal ist es kein angenehmes Schweigen, sondern wird von Hunger und Durst begleitet.


    Nach zwei weiteren Kilometern entlang einer wenig befahrenen Straße kommen wir an die nächste Raststätte, doch auch diese ist geschlossen. Ob für immer oder nur heute, können wir nicht erkennen. Nur wenige Meter vor der Raststätte steht ein Bushäuschen und wir suchen dort Schutz vor dem stärker einsetzenden Regen. Es ist zugig und nicht sehr sauber darin, aber wenigstens ist es trocken. Wir haben noch ein wenig Proviant von gestern dabei und essen so ziemlich alles auf.


    Als wir nach ungefähr 30 Minuten weiterziehen, bemerken wir, dass die Raststätte jetzt geöffnet ist. Es braucht keine Worte, nur einen Blick in die Runde, und wir schwenken links ab und betreten den Gastraum. Der Kaffee dort weckt sofort unsere Lebensgeister und hebt augenblicklich die Stimmung.


    Als wir wieder aufbrechen, hat der Regen aufgehört. Wir wandern über Berg und Tal, an Wiesen und Feldern vorbei, durch Wälder und liebliche Auen. Die Asphaltstraßen wurden inzwischen vom alten römischen Pflaster abgelöst, von Schotterwegen und weichen Waldpfaden. Gegen Mittag erreichen wir einen überdachten Pilgerbrunnen und lassen uns im Schutz des Daches nieder. Aber jetzt ist es nicht mehr der Regen, vor dem wir Schutz suchen, sondern die Sonne, die bereits wieder vom wolkenlosen Himmel brennt. Demzufolge verschwindet der Regenschutz in den Rucksäcken. Wir wollen unsere Wasserflaschen auffüllen, doch der Brunnen gibt kein Wasser her. Am Nachbarhaus wird gerade gebaut und einer der Bauarbeiter dreht für uns die Leitung auf, die den Brunnen mit Wasser versorgt.


    Wir sitzen noch nicht lange, da kommt eine Pilgergesellschaft am Brunnen an, die uns sehr bekannt vorkommt. Die Frauen lösen das Rätsel: sie haben vorletzte Nacht auch in Pazos übernachtet, sind gestern bis Castro Dozón gewandert und kommen jetzt von dort. Sie tragen nur kleine, leichte Rucksäcke, ihr großes Gepäck wird per Taxi transportiert. Während wir am Brunnen rasten, zieht die Gruppe weiter. Wir treffen sie ein paar Stunden später an der Bahnhofsraststätte von Lalín wieder, genauer gesagt im Ortsteil Estación de Lalín, wo sie gerade aufbrechen, als wir dort ankommen.


    Wir sind hungrig und wollen eine Kleinigkeit essen. Es ist kurz vor 14 Uhr, also fast Mittagszeit in Spanien, und wir lassen uns an einem Tisch vor der Raststätte nieder. Wir entscheiden uns für das Tagesmenü, wollen uns aber zwei Menüs teilen und ich versuche, der Wirtin zu erklären, dass wir zweimal das Menü, aber vier Teller haben möchten. Ich bin mir nicht sicher, ob sie verstanden hat, was ich will. Wir strecken die Beine von uns und genießen die neuerliche Rast, wobei ich nun die Zeit im Auge behalte. Was meine Mädels nicht wissen, ist, dass wir spätestens in drei Stunden in Lalín sein müssen, wir bis dahin aber noch eine Wegstrecke von gut 6 km, also ca. eineinhalb Stunden, vor uns haben.


    Während wir auf unser Essen warten, füllt sich der Gastraum mit Arbeitern aus der Umgebung. Der Mittagstisch hier ist offenbar recht gut. Als die Wirtin dann aufträgt, stellt sie vor jede von uns einen Suppenteller und in die Mitte eine Schüssel Nudelsuppe. Dann bekommt jede einen Teller vollgefüllt mit Sardinen, Salat, Kartoffeln und auch den Nachtisch müssen wir nicht teilen, sondern jede erhält ihren eigenen Pudding. Dann hat sie mich wohl doch falsch verstanden!

    

    Dass ich nun langsam zum Aufbruch dränge, muss ich schließlich doch erklären, verrate aber nur so viel, als dass ich um 17 Uhr eine Überraschung für die drei habe, wir davor aber noch 6 km laufen müssen und der Weg bald nicht mehr markiert ist, weil wir den Jakobsweg kurz verlassen werden. Die Wirtin interessiert unser Zeitdruck herzlich wenig. Sie hat im Moment selbst genug davon. Die Arbeiter wollen schnellstmöglich abgefüttert werden, weil sie danach wieder zur Arbeit müssen. Wir warten geschlagene 30 Minuten darauf, endlich zahlen zu dürfen, verlangen von der Wirtin mehrfach die Rechnung und gehen schließlich zum Zahlen direkt an die Bar. Wider Erwarten zahlen wir tatsächlich nur für zwei Menüs. Um 15:15 Uhr brechen wir endlich auf!


    Wenn Martina, Uschi und Roswitha sich fragen, was ich wohl vorhabe, dann verstecken sie ihre Neugierde gut. Niemand fragt mich danach, nur die komischen Mützen, die ich an die drei verteile, werden misstrauisch beäugt. Wir drücken aufs Tempo und erreichen ziemlich ausgepowert um 16:50 Uhr das ****SPA-Hotel Norat Torre do Deza.


    Eingecheckt wird im Eiltempo, denn ab 17:00 Uhr ist das Bad mit Bewegungsbad, Jacuzzi und Erlebnis-Heiß-Kalt-Dusche für uns reserviert. Wegen Corona darf nur jeweils eine begrenzte Anzahl an Gästen das Bad gleichzeitig und nur für eine Stunde nutzen. Im Anschluss daran erhalten wir alle eine 20-Minuten-Massage nach Wahl – Rücken oder Beine.


    Ich glaube durch die Hektik bei der Ankunft im Hotel realisieren die drei erst im Wasser, was ich mir da ausgedacht habe. Ausgelassen springen wir in die Fluten und ich denke mal, dass nicht nur ich von meiner Idee begeistert bin. Meine Pseudo-Bademützen tragen übrigens entscheidend zur nachmittäglichen Heiterkeit bei. Ich frage mich nur zum wiederholten Male, ob sich wirklich keine der drei im Vorfeld darüber gewundert hat, warum ich immer wieder darauf hingewiesen habe, dass sie Badesachen mitnehmen sollen.

    

    Den Tag beschließen wir bei einem mehrgängigen Menü im Restaurant des Hotels und weil wir, seit wir jetzt zusammen durch Galizien pilgern, noch an keinem Tag so viel gegessen haben wie heute, brauchen wir danach natürlich unbedingt noch einen doppelten Chupito!


    Mittwoch, 8. September 2021


    Wir schlafen erstmal aus und brechen erst um 9:30 Uhr auf, nach einem ausgiebigen Frühstück nebst Spiegelei, Müsli und Obst. Es regnet als wir das Hotel verlassen.


    Die ersten paar Kilometer laufen wir im losen Verbund. Als Roswitha und ich dann mal hinter den Büschen verschwinden müssen, wartet Martina auf uns, während Uschi, die wieder einmal gute hundert Meter vor uns läuft, weiterwandert. Ich bin mir schon seit ein paar Tagen nicht sicher, ob wir für Uschi nur zu langsam laufen oder ob sie sich bewusst etwas absondert. Ich hatte allerdings noch keine Gelegenheit, sie danach zu fragen. Wie dem auch sei, Uschi verschwindet im nächsten Dorf und als auch wir dort ankommen, ist sie nirgends mehr zu sehen. Ich rufe sie an und sie meint, sie wäre nicht weit voraus. Wir würden sie sicher bald wieder einholen. Sie sagt noch, die Beschilderung sei hier schlecht, doch sie wüsste ja, wie das nächste Dorf heißt und sie liefe nach Google Maps.


    Im Dorf ist die Beschilderung nicht schlecht im Sinne von zu wenig, sondern eher verwirrend, da es an jeder Straßenecke Hinweisschilder im Überfluss gibt. Hier führen wohl einige Fernwanderwege durch und man sieht vor lauter Wald die Bäume nicht. Nur Pfeile oder Muscheln sieht man wirklich keine. Ich habe mir während der Vorbereitung auf den Weg die Streckenführung in meine Outdooractive-App geladen und nutze diese jetzt bis wir wieder auf unsere gewohnte Markierung stoßen.


    Wir drei bleiben zusammen und treffen bald darauf im Wald auf die Frauengruppe, denen wir nun schon mehrfach begegnet sind. Sie sitzen an einem riesigen Baum, den offenbar vor langer Zeit ein Blitz gespalten hat. Gläubige Menschen haben das Innere des gespaltenen Stammes zum Schrein gemacht und Votivtafeln darin aufgehängt. Im oberirdischen Wurzelwerk des Baumes liegen Blumen und Kerzen. Er erinnert mich an die Gnadenkapelle in Altötting.


    Wir fragen die Gruppe, ob Uschi hier vorbeigekommen ist und sie bejahen. Sie meinen allerdings, das sei schon eine ganze Weile her und wir würden sie sicher nicht mehr einholen. Wir halten uns nicht lange auf, sondern setzen unseren Weg durch den Wald fort. Wieder einmal laufen wir auf uralten Steinplatten, die bei dem einsetzenden Regen ziemlich glitschig werden. Wir überqueren eine Brücke aus der Römerzeit, teils von Dornen überwachsen, die Steine grün und rutschig von der Nässe. Auf diesem Weg hier fühle ich mich stellenweise in eine andere Zeit versetzt.


    Zwischen den Eichen und Buchen verstecken sich immer wieder große, alte Eukalyptusbäume, die sich stets durch ihren aromatischen Duft ankündigen. Man riecht die Bäume, lange bevor man an ihnen vorbeiläuft. Besonders jetzt, bei leichtem Regen, riechen sie besonders aromatisch.


  • Ein Blick in den Pilgerführer zeigt mir, dass es im vor uns liegenden Ortsteil von Silleda eine Bar gibt. Uns ist nach einem Kaffee und ich rufe wieder Uschi an und frage, wo sie ist. Sie sagt, sie hätte mich auch gerade anrufen wollen, weil sie eine nette Bar gefunden hat, wo es guten Kaffee gibt. Zum Beweis erhalte ich per WhatsApp gleich darauf ein Foto von ihrem Café solo. Wir biegen daraufhin am Ortseingang rechts ab und erreichen gleich darauf ein Fitness-Studio, in der sich die Bar befindet.


    Während wir unsere Wiedervereinigung mit Kaffee feiern und uns zu viert ein Käsebrötchen teilen (die Bäuche sind noch voll von gestern), stellt Roswitha plötzlich fest, dass sich die Sohle an einem ihrer Schuhe ablöst. Der Schuh wird von uns von allen Seiten begutachtet und es ist sofort klar, dass Roswitha so nicht weiterlaufen kann. Nicht die Naht löst sich, sondern die Sohle löst sich mehr oder weniger auf. Einmal der Länge nach durch! Es werden diverse Vorschläge gemacht: Mit Sandalen weiterlaufen, den Wirt fragen, ob er Klebeband hat, weiterlaufen und hoffen, dass es hält.


    Schließlich sind wir uns einig, dass ein neues Paar Schuhe her muss. Ein Blick auf die Uhr zeigt außerdem, dass Eile geboten ist, weil die Siesta naht. Ich frage den Wirt – Typ Lieblingsschwiegersohn aller Mütter von Töchtern – wo das nächste Schuh- bzw. Sportgeschäft ist und ob er uns gleich ein Taxi rufen kann.


    Der Taxifahrer braucht eine kleine Weile, bis er da ist, und fährt uns nicht zu dem Geschäft, das Schwiegermamas Liebling uns nannte, weil dieses zu weit abseits unserer Route liegt, sondern zu einem Schuh- und Sportgeschäft in Silleda, das sich näher am Jakobsweg befindet. Fünf Minuten vor Beginn der Siesta treffen wir dort ein. Wir lassen die Rucksäcke einfach vor der Tür liegen, Martina und Uschi zahlen das Taxi, während ich sofort mit Roswitha ins Geschäft eile. Man hat Verständnis dafür, dass wir nicht warten wollen, bis die Siesta um 17 Uhr wieder beendet ist. Die Auswahl an Wanderschuhen in Roswithas Schuhgröße ist gigantisch und wir unterstützen sie tatkräftig bei der Entscheidung, welches der beiden Paare sie nehmen soll.


    Die neuen Wanderschuhe bleiben gleich an den Füßen und wir hoffen mit ihr, dass das Einlaufen ohne Blasen vonstattengeht. Roswitha sieht während der ganzen Aktion alles andere als glücklich aus, sondern wirkt eher überrumpelt. Und wahrscheinlich haben wir das auch – sie überrumpelt. Sie will ihre kaputten Wanderschuhe nicht einfach hierlassen, sondern zur Reparatur an den Hersteller schicken. Schließlich sind es teure Qualitätsschuhe mit Garantieanspruch. Aber die Aussicht darauf, sie im Rucksack mitzutragen, stimmt sie nicht gerade fröhlich. Ich frage die Verkäuferin, ob es wohl möglich wäre, dass wir die alten Schuhe im Karton der neuen verpacken und sie das Päckchen für uns bei der Post aufgeben könnte. Und nun überrascht uns die Verkäuferin mit dem Vorschlag, die Schuhe übermorgen mit nach Santiago zu nehmen und dort in unserem Hotel abzugeben. Optimal! Roswitha kann erstmals seit einer Stunde wieder lachen!


    Wir entlassen die nette Verkäuferin ziemlich verspätet in ihre wohlverdiente Mittagspause, kaufen nebenan bei einem Obst- und Gemüsehändler ein paar Leckereien ein und ziehen damit zur Plaza. Gestärkt und mit neuem Schuhwerk bringen wir die letzten 7 km des heutigen Tages hinter uns. Roswitha ist noch nicht begeistert von ihren Tretern und Martina geht es seit der Pause nicht gut. Sie wirkt sehr schlapp und verzieht sich bei unserer Ankunft im Hotel Victorino in Bandeiro bald ins Bett, allerdings nicht, ohne vorher noch mit uns eine Tasse Kaffee zu trinken.

    

    Auf das Abendessen müssen wir heute nicht bis in die Nacht hinein warten, sondern können schon um 19:00 Uhr essen. Auch Martina hat ordentlich Hunger. Wir bestellen viel und essen fast alles auf. Lediglich die Tortilla schaffen wir nur zur Hälfte, da diese wohl für eine ganze Kompanie gedacht war. Mit dem nun schon obligatorischen Chupito, heute in Gelb, beenden wir das feudale Mahl.

     


    Donnerstag, 9. September 2021


    Es ist stark bewölkt, aber trocken als wir das Hotel Victorino um 8:30 Uhr verlassen. Wir haben uns hier wohlgefühlt, auch wenn das Hotel nur Etagenbäder hat, die wir uns mit den schon bekannten Pilgerdamen teilten. Diese haben wir beim Frühstück nun etwas näher kennengelernt und dabei erfahren, dass sie aus England kommen. Sie waren sehr an Uschis Wanderhose interessiert und haben auch Roswithas neue Schuhe ausreichend bewundert und beides fotografiert.


    Die Wirtin hat uns beim Frühstück mit unserer Tortilla von gestern überrascht – ordentlich verpackt, damit sie in einem unserer Rucksäcke transportiert werden kann. Wir kaufen noch ein Brot dazu und sind wieder auf der Piste.


    Wir laufen heute über sehr viel Asphalt und haben auch etliche Höhenmeter zu überwinden. Die Gegend ist sehr bergig. Immer, wenn wir am höchsten Punkt eines Berges angekommen sind, bleiben wir kurz stehen und lassen den Blick über die Landschaft schweifen. Bergrücken und Hügel, soweit das Auge reicht. Im Laufe des Vormittags kommt die Sonne wieder heraus und in einem Weiler klauen Uschi und Roswitha Weintrauben vom Stock. Ich weiß ja nicht, ob man das als ehrbare Pilgerin darf.

    

    Weit unter uns überspannt eine gigantische Brücke das Tal und uns führt der Weg dort hinunter und schließlich unter der Brücke hindurch. Als wir gegen Mittag durch das Dorf Ponte Ulla kommen, beginnt es zu regnen und wir flüchten in eine Kneipe. Die Wirtin scheint nicht viel Zeit für uns zu haben, bringt uns nur schnell was zu trinken und hat nichts dagegen, dass wir die mitgebrachte Tortilla und das Brot bei ihr im Gastraum essen. Es halten sich noch zwei Männer in der Bar auf und als kurz nach uns die Engländerinnen ankommen, wird ihnen der Zutritt verwehrt, weil nur 9 Gäste und die Wirtin gleichzeitig im Raum sein dürfen. Ich vergesse hier immer wieder, dass Corona noch nicht aus der Welt ist und wir uns nach wie vor an die Pandemie-Regeln halten müssen. Die zwei Spanier sind aber echte Gentlemen und gehen mit ihrem Bier nach draußen unters Vordach, damit die englischen Damen die Bar betreten dürfen. Wir brechen nach ein paar Minuten auch wieder auf und stapfen durch den Regen davon.


    Am Ausgang des Dorfes gabelt sich der Weg und in beide Richtungen zeigen gelbe Pfeile. Ich gehe aktuell voraus und bleibe hier kurz stehen, um auf meine Outdooractive-App zu schauen. Als Uschi bei mir ankommt, hat sie ihr Handy in der Hand, deutet nach rechts und sagt: „Da geht’s weiter!“


    Ich weiß, dass sich beide Wegvarianten später wieder vereinigen und auch, dass im Pilgerführer der Weg nach links beschrieben ist. Dort steht auch, dass die rechte Variante um einiges länger ist als die linke, dafür aber die Nationalstraße meidet. Ich habe mich monatelang auf diese Tour vorbereitet, bin am PC und mittels Pilgerführer den ganzen Weg durchgegangen, um die jeweils besseren Varianten auszuarbeiten. Wer mich kennt weiß, wie ich reagiere, wenn man dann einfach sagt: „Da geht’s lang!“ Uschi kennt mich anscheinend nicht so gut, wie wir beide dachten!


    Ich reagiere nämlich gar nicht, sondern wende mich nach links und laufe einfach weiter. Uschi will mich noch von der Wegführung, die sie bei Google Maps gefunden hat, überzeugen, doch ich werde zickig und reagiere nun ziemlich verärgert. Martina und Roswitha folgen mir schweigend, Uschi folgt uns vor sich hin schimpfend. Wir laufen eine Weile auf dem Seitenstreifen der N525, eben der Nationalstraße von der Uschi, als wir vor vier Jahren mit dem Rad unterwegs waren, nicht herunterzubringen war. Ich grolle! Uschi vermutlich auch! Ich weiß, dass es kindisch ist, sich darüber zu streiten, ob wir ein paar hundert Meter früher oder später von der Nationalstraße abbiegen. Aber als Uschi mir erneut das Handy vor die Nase hält, um mir zu zeigen, dass hier schon wieder ein Waldweg rechts abzweigt und weiter oben im Wald auf den Jakobsweg trifft, fauche ich sie an, dass sie gerne ihrer Google-Maps-Route folgen kann. Ich gehe bei dem Wetter weiter auf befestigtem Weg. Daraufhin dreht Uschi ab und verschwindet im Wald. Roswitha und Martina folgen mir mit deutlichem Abstand weiter die Nationalstraße entlang. Ich muss mich jetzt erst einmal abreagieren.


    Wenige hundert Meter weiter biegt auch unser Weg nach rechts ab, führt durch eine Siedlung und wendet sich dann auch dem Wald zu. Dort, wo die Teerstraße zum Waldweg wird, kommt von rechts ein Weg dazu. Beide Wege sind als Jakobsweg markiert und eigentlich müssten wir hier wieder mit Uschi zusammentreffen. Man kann weit in diesen Weg hineinblicken, doch von Uschi ist nichts zu sehen. Der gemeinsame Weg führt den Berg hinauf und als ich dort ankomme, wo es wieder eben wird, kann ich sie etwa 100 m vor mir sehen. Ich rufe nach ihr, doch entweder will sie mich nicht hören oder mein Rufen geht im Prasseln des Regens unter. Mittlerweile schüttet der Himmel nämlich alles aus, was er zu bieten hat.


    Es tut mir gut, im Moment allein zu laufen. Roswitha und Martina sind etwa 50 m hinter mir. Etwa eine Stunde habe ich für mich, kann meine Gedanken sortieren und komme wieder etwas runter. Als rechts die staatliche Pilgerherberge aus dem Regen auftaucht, biege ich in die Zufahrt dorthin ab und warte unter dem Vordach auf Martina und Roswitha, die gleich darauf fast an mir vorbeigelaufen wären. Der Vorfall vor einer Stunde wird von uns nicht erwähnt, doch die beiden schauen mich schon etwas bedröppelt an, was nicht nur am Regen liegt. Aber zumindest Martina hat mich so schon erlebt und weiß, dass ich mich schnell wieder abrege. Roswitha kam bisher noch nicht in diesen zweifelhaften Genuss.


    Wir sind inzwischen pitschnass bis auf die Unterwäsche, holen uns in der Herberge einen Stempel ins Credencial und wandern dann gemeinsam weiter. Der Regen hört nach einer Weile auf, die Sonne bricht durch die Wolken und die Wiesen dampfen und duften. Als wir um 15:30 Uhr die private Herberge Reina Lupa im Dorf Susana erreichen, tritt uns Carmen, die Wirtin, ziemlich aufgeregt entgegen und fragt mich, ob das richtig ist, dass da schon eine von uns da ist. Sie hätte der Frau das Doppelzimmer nicht geben wollen, aber die hätte behauptet, das sei schon richtig. Ich beruhige Carmen und sie händigt mir den Schlüssel für das zweite Zimmer aus, den sich Martina sofort schnappt und wortlos mit Roswitha Richtung Herberge stapft. Nun gut, ich glaube zwischen Uschi und mir ist sowieso ein klärendes Gespräch vonnöten.


    Als ich vom Restaurant zur Herberge rüber gehe, sehe ich, dass Uschi im Garten im Gras liegt. Ich bringe nur schnell meinen Rucksack ins Zimmer und gehe dann, noch bevor ich mich trockenlege, zu ihr raus. Es braucht eigentlich gar kein klärendes Gespräch, wir müssen uns nur anschauen, grinsen beide, und alles ist wieder gut. Es ist ja nicht der erste Streit, den wir beide ausgetragen haben und wenn man es genau nimmt, haben wir doch gar nicht gestritten. Wir sind nur vorübergehend getrennte Wege gegangen. Manchmal benehmen wir uns eben wie ein altes Ehepaar. Ein kleines bisschen knatschig sind wir zwar auch während der nächsten Stunde noch, doch spätestens als ich meinen Rucksack in den Wäschetrockner stopfe, dabei vergesse, ein Päckchen Studentenfutter herauszunehmen, und die Nüsse später aus dem Trockner puhlen muss, habe ich alle Lacher wieder auf meiner Seite.

    

    Die Herberge Reina Lupa ist bestens ausgestattet und hat natürlich nicht nur einen Wäschetrockner, sondern auch eine Waschmaschine, beides in industrieller Ausführung. Wir würden auch gerne einen Teil unserer Wäsche darin waschen und trocknen, aber zwei Herren belagern die Waschküche. Sie tragen beide lediglich ein Handtuch um die Lenden geschlungen, was darauf schließen lässt, dass sie ihre komplette Wäsche waschen. Es handelt sich, wie gesagt, um eine Industrie-Waschmaschine, die locker alles, was zwei Pilger gewöhnlich im Rucksack und am Leib tragen, in einem Waschgang waschen könnte. Doch die beiden schaffen es tatsächlich, drei Trommeln zu befüllen. Vermutlich sind das auch wieder Koffer-Pilger, die mit großem Gepäck unterwegs sind, für das sie den Gepäcktransport nutzen, den die spanische Post anbietet. Wir stellen uns irgendwann demonstrativ mit unserer Wäsche zu den Nackedeis in die Waschküche und sie waschen die letzte Ladung im Express-Modus. Endlich können wir auch unsere Wäsche reinstopfen, und zwar alles auf einmal, und ganz zum Schluss passiert mir dann das Missgeschick mit dem vergessenen Studentenfutter, welches ich nicht nur aus dem Trockner, sondern auch aus meinem Rucksack, aus Socken und Unterwäsche und aus Roswithas Schuhen popeln muss. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie klebrig im Wäschetrockner getrocknetes Studentenfutter sein kann!


    Freitag, 10. September 2021


    Die letzten 12 km liegen vor uns. Die erste halbe Stunde werden wir wieder nass, doch so schlimm wie gestern regnet es an diesem Morgen nicht und bald schon hört es ganz auf. Auf dieser letzten Etappe bleibt allerdings der Asphalt unser ständiger Wegbegleiter.


    Santiago zieht uns magisch an. Mir scheint, wir kommen heute schneller vorwärts als in den letzten Tagen. Keine drei Stunden nach unserem Aufbruch erhaschen wir den ersten Blick auf die Kathedrale. Wir laufen auf Kopfsteinpflaster über den Camiño Real, den königlichen Weg, in die Stadt hinunter, da taucht sie auf dem gegenüberliegenden Hügel majestätisch aus dem Dunst auf. Durch verwinkelte Gassen wandern wir unserem Ziel entgegen. Plötzlich sind wir umgeben von Pilgern aus aller Herren Länder. Und alle scheinen das gleiche Leuchten im Gesicht zu haben.


    Ich bin zwar nun schon zum dritten Mal in dieser Stadt, aber es ist erst meine zweite Ankunft als Pilger in Santiago de Compostela. Doch während ich beim ersten Mal von der Ankunft regelrecht überrumpelt wurde und gar nicht richtig begriff, dass meine Wanderung, 850 km von Irún hierher, jetzt einfach vorbei war, so zelebriere ich innerlich dieses Mal meinen Einmarsch in die Stadt. Vielleicht liegt es daran, dass ich damals allein hier ankam und niemanden hatte, mit dem ich meine Emotionen teilen konnte.


    Heute habe ich drei liebe Wegbegleiterinnen bei mir, drei Freundinnen, die Anteil nehmen an meiner Freude und meinen Tränen. Ich weiß nicht, ob sie ähnlich empfinden wie ich. Jede hat vermutlich andere Beweggründe gehabt, diese Tour mit mir zu gehen. Alle waren unterschiedlich lange mit mir unterwegs: Martina 2006 und 2007 auf dem Camino del Norte, der Ruta de la Reconquista und dem Camin a Cuadonga, Roswitha 2018 auf der Via de la Plata und dem Camino Sanabrés, Uschi 2015 bis 2017 nahezu den ganzen langen Weg von Málaga bis Puebla de Sanabría, fast 1000 km über den Camino Mozárabe, die Via de la Plata und den Camino Sanabrés, und nun diese letzten 100 km alle gemeinsam auf dem Camino Sanabrés oder, wie ich ihn nenne, den Camino Final.


    Wie bei meiner ersten Ankunft im Jahr 2010, haben wir auch jetzt wieder ein Heiliges Jahr, das aufgrund der Corona-Pandemie sogar um ein Jahr verlängert wurde. Das hat es in der ganzen Geschichte des Jakobswegs noch nie gegeben! Was es vermutlich auch noch nie gegeben hat, ist, dass man sich im Pilgerbüro erst online registrieren muss und dann ein Zeitfenster für die Ausstellung der Compostela zugeteilt bekommt. Es herrscht ein heilloses Durcheinander vor dem Pilgerbüro. Dadurch, dass wir erst nach Mittag hier ankommen, wird unser Termin erst morgen sein, falls wir es überhaupt schaffen, uns online anzumelden. Das ganze System ist gerade am Zusammenbrechen. Um uns herum sind lauter teils ratlose, teils erboste Pilger. Pilger, die heute angekommen sind, morgen früh bereits abreisen wollen, aber erst morgen gegen Mittag einen Termin im Pilgerbüro erhalten. Pilger, die wie wir, an der Online-Registrierung scheitern. Pilger, die kein Spanisch sprechen und daher nicht verstehen, warum man sie nicht ins Pilgerbüro eintreten lässt.


    Anders als Roswitha, legen Uschi, Martina und ich gar keinen großen Wert auf die Compostela, die Pilgerurkunde. Den abschließenden Stempel hätten wir aber doch gerne in unserem Credencial. Ich frage den Mann von der Security, der den Eingang bewacht, ob dies möglich wäre, und er ruft einen Helfer herbei, dem wir unsere Credencials übergeben. Sofort schließen sich mehrere umstehende Pilger an und der Mann verschwindet mit einem ganzen Packen Pilgerausweise. Es dauert nicht lange da kommt er mit den abgestempelten Ausweisen wieder zurück und drückt mir den ganzen Stapel in die Hand. Wir verteilen die Credencials und schlagen die erste Seite auf, auf der der Beginn unserer Pilgerreise mit Ort, Datum und Stempel der ausstellenden Jakobusgesellschaft vermerkt ist und nun auch das Ende der Pilgerfahrt mit Ort, Datum und Stempel des Pilgerbüros stehen müsste.


    Jawohl: „müsste“! Wir finden aber nur einen Stempel der Jakobs-Kathedrale hinter dem Stempel unserer letzten Übernachtung. Etwas enttäuscht ziehen wir mit Sack und Pack unserer Unterkunft entgegen und da wir in diese frühestens in einer Stunde einchecken können, genehmigen wir uns im benachbarten Restaurant ein ausgiebiges Mittagessen.


    Wir gelangen anschließend mittels Schlüsselcode in das Hostal. Wir haben hier zwei Übernachtungen gebucht und da Roswitha und ich übermorgen schon ganz früh zum Flughafen müssen, während Martina und Uschi bis zum Nachmittag noch in der Stadt bleiben können, teilen wir die Zimmer dementsprechend auf. Als Roswitha und ich unser Zimmer betreten, stehen da ihre kaputten Wanderschuhe auf einem Stuhl. An die hatten wir überhaupt nicht mehr gedacht!

    

    Wir besichtigen am Nachmittag die Kathedrale inklusive der Gruft des Hl. Jakobus, in der Uschi verbotenerweise ein Foto macht, quasi als Entschädigung für den fehlenden Eintrag im Credencial. Die Messe am Abend besuchen wir nicht, da man sich hierfür stundenlang anstellen muss. Die Schlange der wartenden Pilger reicht schon einmal um die Kathedrale herum. Dafür lassen wir den Nachmittag und den sehr langen Abend bei einer ausgiebigen Besichtigungstour durch Santiago ausklingen.


    Samstag, 11. September 2021


    Für Uschi und mich stand schon immer fest, dass für uns beide das Ziel dieser Pilgerreise nicht Santiago sein sollte. Wir hatten uns von Anfang an vorgenommen, vom Mittelmeer an den Atlantik zu wandern. Um nach Fisterra zu laufen, reicht die Zeit nicht mehr. Aber wir waren vor sechs Jahren auch nicht wirklich am Mittelmeerstrand gestartet, sondern hatten uns von meiner Schwester mit dem Auto aus Málaga herausfahren lassen. Warum sollen wir dann jetzt nicht auch mit dem Auto die knapp 100 km bis Fisterra fahren. Martina und Roswitha mussten wir nicht lange dazu überreden. Sie fanden die Idee gleich gut, als wir ihnen gestern Abend den Vorschlag machten.


    So fahren wir also gemeinsam mit dem Shuttle-Bus zum Flughafen, wo ich gestern Abend noch einen Mietwagen gebucht habe. Und los geht die Fahrt zum westlichsten Punkt des spanischen Festlands. Der westlichste Punkt des europäischen Festlands liegt am anderen Ende der iberischen Halbinsel – am Cabo da Roca, in der Nähe von Lissabon.


    Anfangs ist es noch etwas bewölkt und diesig aber nach einer kurzen Frühstückspause, etwa auf halber Strecke, setzen wir die Fahrt bei strahlend blauem Himmel und angenehmen Temperaturen fort. Wir fahren bis zum großen Parkplatz fast am Ende der Straße und laufen dann die zwei Kilometer, vorbei an diversen Pilgerstatuen und Kreuzen, bis zum Leuchtturm von Fisterra. Dort schlängeln sich die Pfade zwischen Felsbrocken hindurch zu den Klippen hoch überm Meer und zu einem Wanderschuh aus Bronze, an dem seit jeher Pilger aus aller Welt ihre Schuhe verbrennen, die sie den weiten Weg bis hierher getragen haben. Die Einzige, die ein paar Schuhe zum Verbrennen hätte, ist Roswitha, doch sie lässt sich nicht dazu überreden.


    Wir halten uns lange dort auf, machen viele Fotos und blicken übers Meer hinaus. Der Himmel schenkt uns noch einmal einen recht warmen Sonnentag und ich fühle mich wieder einmal „angekommen“. Ich war jetzt insgesamt gut 2000 km auf Jakobswegen unterwegs und hatte dabei schon öfter dieses Gefühl, „angekommen“ zu sein. Am wenigstens allerdings in Santiago selbst. Doch hier, am Kilometer „0“ aller Jakobswege, schließe ich für mich endgültig das Kapitel Jakobsweg! Vielleicht werde ich noch einmal auf ein Teilstück des Camino Francés zurückkehren – die Strecke Burgos, León, Astorga bis Ponferrada reizt mich schon lange – doch es wird definitiv keinen ganzen Camino Santiago mehr geben für mich! Die Welt hat schließlich noch so viel mehr zu bieten!


    

  • Eines fehlt allerdings noch zu einem ordentlichen Abschluss: Das ist der finale Stempel in unserem Credencial. Und den holen wir uns am Leuchtturm des Cabo de la Finisterra. „Am Ende der Alten Welt!“


    Oder wie meine Schwester eines meiner Fotos kommentiert:


    „Die Alten am Ende der Welt!“


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